Hochsensibel als Fotografin. Ein Interview mit Janine Oswald

Hochsensible Menschen sehen und fühlen mehr. Sie nehmen Stimmungen, Gefühle und Details mit allen Sinnen sehr intensiv wahr. Das ist ein wunderbares Geschenk, denn es bereichert ihre Arbeit mit Bedeutung, Gefühl, dem Blick für Details und Sensibilität. Die Fotos von Hochsensiblen werden oft als besonders tief und emotional wahrgenommen, oft brauchen sie einen zweiten Blick und sind auf Anhieb nicht zu entschlüsseln, aber dafür überraschen sie bei jedem Anschauen wieder mit einem neuen Detail.

Aber es ist auch schwierig und manchmal überwältigend, wenn man so viel wahrnimmt.

Zeitdruck, schlechte Stimmung und Kritik sind für niemanden angenehm, aber für Hochsensible können sie existenziellen Stress bedeuten.

Deshalb ist eine Fotosession und das anschließende Zeigen der Bilder für sie eine emotional äußerst intensive Erfahrung. Sie und ihre KundInnen werden mit besonders feinfühligen Bildern belohnt, aber die Arbeit ist auch extrem herausfordernd.

An den Kursen von Inspiralab nehmen überdurchschnittlich viele Hochsensible teil. Wir haben schon oft gehört, dass unsere ruhige und feinfühlige Art ihnen hilft, sich zu öffnen und ihre besondere Fähigkeit auch zuzulassen. Wir haben deshalb zwei Fotografinnen, die an unserem Workshop „Poetisches Foto-Essay“ teilgenommen haben, gefragt, wie sie mit ihrer Hochsensibilität im Alltag als Fotografin umgehen.

In diesem Interview berichtet Janine Oswald, Familienfotografin aus der Nähe von Hamburg, wie ihre Hochsensibilität ihre Arbeit bereichert und wie sie mit den Herausforderungen umgeht.

Die Fotos stammen aus Janines Foto-Essay „Langer Atem“

Was glaubst du, ist der Vorteil, wenn man als Fotografin hochsensibel ist?

Ich glaube, die Hochsensibilität verschafft mir einen besonderen Blick mit einem persönlichen Gefühl. Die „Diagnose“ fühlte sich wie eine Art Erlösung an und irgendwie in der Retrospektive macht alles jetzt irgendwie viel mehr Sinn. Auch wenn oft alles ganz schön viel ist und ich viele Pausen brauche, fühle ich mich wirklich beschenkt. Mit der Fotografie kann ich meine eigenen Themen und Gefühle wunderbar verbildlichen. 

Was sind die Herausforderungen als Hochsensible im Familienfotografinnen-Alltag und wie gehst du damit um?

Ein leichtes und schweres Herz. Ich fühle mich nach einer Dokumentation auf der einen Seite positiv aufgeladen. Auf der anderen Seite oft wie leer gesogen. All meine Energie und mein Innerstes so für andere Menschen auszuschöpfen, mit allen Sinnen so präsent zu sein, fühlt sich manchmal ermüdend an. Hinzu kommt natürlich die Aufregung, mit neuen Menschen in relativer kurzer Zeit auf eine emotionale Ebene zu kommen, Vertrauen und eine Gelassenheit zu schaffen – und oben drauf noch einzigartige Bilder zu kreieren. Alles zusammen löst in mir nicht nur Freude, sondern auch Anspannung aus. Ich habe für mich herausgefunden, in welchem Pensum ich fotografieren kann und welche Instrumente ich benutzen muss, um noch Energiereserven für meine Familie und mich übrig zu haben. Zum Beispiel nehme ich oft ein Bad oder eine Dusche, wenn ich von der Arbeit komme. So finde ich einen leichteren Übergang von einem „fremden“ Familienleben in mein eigenes.

Wie achtest du während einer Fotosession auf dich?

Währenddessen vergesse ich mich selbst komplett. Erst hinterher spüre ich oft eine Art Druck auf meiner Brust. Ich muss tief durchatmen, auch wenn die Dokumentation noch so schön und innig war. Mit dieser Anspannung und mit diesem Druckgefühl lerne ich noch umzugehen. 

Welche allgemein üblichen Praktiken und Regeln deiner Branche passen für dich nicht und warum?

Die Schnelligkeit. Ich bin ein Mensch, der mit elektronischen Geräten arbeitet. Das bedeutet aber nicht, dass Maschinen all meine Arbeit erledigen. Ich brauche Zeit und möchte sie mir auch nehmen. Ich möchte während der Bildauswahl und Bildbearbeitung wieder eintauchen in dieses Gefühl, welches die Fotodokumentation in diesem Moment vor Ort in mir ausgelöst hat. Meine Arbeit soll von vorn bis hinten von mir geliebt und gefühlt werden und ich würde mir gern die Zeit nehmen, die ich eben brauche.

Außerdem möchte ich mir gern die Freiheit nehmen, meinen Stil und meinen Blick ständig weiterzuentwickeln. Vor, sowie zurück. Genauso wie ich mich in gewissen Punkten mit der Zeit des Lebens verändere, wird sich auch meine Fotografie mit verändern. Diese Verbundenheit zwischen Fotografie und mir selbst ist mir enorm wichtig. Wenn wir uns alle an eine Regel X oder einem Stil Y festhalten, wo bleibt dann die Individualität und die Persönlichkeit? 

Was machst du anders?

Das weiß ich nicht. Vielleicht erlaube ich mir, weich zu sein.

Wie wichtig ist es für dich, einen Sinn in deiner Arbeit zu sehen?

So wichtig. Gerade fühlt es sich sogar so an, als könnte ich Menschen mit meiner Fotografie zur Heilung verhelfen. Das ist mehr, als ich mir je erträumt habe.

Wie geht es dir, wenn deine Arbeit bewertet wird, zum Beispiel auf Instagram?

Eine absolute Achterbahnfahrt. Ich zittere oft, wenn ich Bilder und Texte zeige, die mir wichtig sind. Kritik und Komplimente lasse ich so nah an mich heran. Ich zweifle schnell an mir und hinterfrage viel zu viel. Ich wünschte manchmal, ich wäre abgebrühter und gelassener. 

Fällt es dir leicht, deine Arbeit zu vermarkten?

Ich stelle meine Arbeit oft infrage. Hinterfrage mich, meine Bilder und Texte und spüre eine Art Unsicherheit. Bis vor 2–3 Jahren konnte ich mich selbst als Fotografin noch gar nicht richtig ernst nehmen. Ich habe mir einfach so gewünscht, dass ich überzeugt sagen kann, dass es wirklich gut ist, was ich tue. Dieser Prozess zu einem sichereren Ich fühlt sich einfach sehr lang an und es gibt gute und weniger gute Tage. Auf der anderen Seite sehe ich mich in keinem anderen Beruf so sehr, wie in diesem. Also gehe ich diesen Weg zu einem sichereren Ich und akzeptiere den Prozess.

Hat dir die freie Arbeit an einem persönlichen Thema dabei geholfen, deine Hochsensibilität mehr zu akzeptieren und wertzuschätzen? Falls ja, inwiefern?

Vor zwei Jahren begann ich Frauen und ihre Besonderheiten zu dokumentieren. Äußerliche und innerliche Besonderheiten, die in unserem Sprachgebrauch oft als Makel bezeichnet werden. Fast täglich erlebe ich Menschen, die an sich zweifeln. So wie ich es auch tue. Ich aber sah beim Fotografieren immer etwas ganz anderes, als einen vermeintlichen Makel. Ich fing also an, Frauen zu zeigen, was ich sehe. Und umgekehrt zeigten mir Frauen, was sie sahen und ich aber nicht. 

Ich vermute, dass mir mein Gespür für Menschen und Momente hilft, eine gute Kommunikationsebene zu finden und Vertrauen zu schaffen, um sich äußerlich und innerlich zu öffnen. Das erfordert Bewegung von beiden Seiten. Ob die Hochsensibilität hier mitschwingt, kann ich schlecht beurteilen. Klar ist aber, dass dieses Projekt auch irgendwie eine heilende Wirkung für mich hat. Ich fühle mich bestärkt, all diesen wunderschönen Frauen meinen Blick zu schenken und dadurch so eine starke Verbindung zu spüren.

Diese beiden Fotos stammen aus dem Projekt „Ich sehe was, was du nicht siehst“

Eine Foto-Ausstellung über individuelle Schönheit und wie Besonderheiten die eigene Geschichte prägen

10. und 11. Juni 2023
Beyondtales, Lehmweg 53, Hamburg

Hat dir der Kurs Poetisches Foto-Essay geholfen, deine Hochsensibilität für die Fotografie wertzuschätzen, und falls ja inwiefern?

Meine persönliche/private Fotografie mit mir noch fremden Menschen zu teilen und eine öffentliche Rückmeldung zu meinen Bildern zu bekommen, war bis zu einem bestimmten Zeitpunkt mein größtes Hindernis, an diesem Kurs teilzunehmen. Meine Angst, dass meine Fotografie von jemandem „bewertet“ wird, konnte ich dann in einer „Einfach-machen-Anmeldung“ kurz verdrängen. Und diese Blitzentscheidung war wirklich eine der Wichtigsten, seitdem ich mich als Fotografin selbstständig gemacht habe. 

Dieser Kurs hat mich so sehr darin bestärkt, sein zu dürfen. Mir zu erlauben, still zu stehen und mich auf einen kreativen Prozess einzulassen. Das waren emotionale Tage mit einigen Tränen und Zweifeln. Doch ich habe es geschafft, mein Thema zu meinem Thema zu machen und dabei mal nur auf mich zu schauen, was mir oft sehr schwerfällt. Ich bin euch unheimlich dankbar für diese kleine Reise mit so viel Wertschätzung und Gespür für richtige Worte und das Sehen nicht nur von Bildern, sondern das Sehen von jeder einzelnen Teilnehmerin.

Vielen Dank, Janine!

Janines Website

Janines Instagram

In diesem Blogpost spricht Patricia Hoffmann über ihre Erfahrungen als hochsensible Fotografin.


Workshop Poetisches Foto-Essay

Verwandle deine Ideen und Gefühle in poetische Bilder und Geschichten. In diesem Workshop lernst du, eine visuelle Geschichte zu erzählen und findest deine ganz eigene Bildsprache. Du realisierst ein persönliches künstlerisches Projekt, lernst Kreativ-Techniken und gestaltest dein eigenes Buch.

Online-Workshop mit Gruppen-Mentoring und individuellem Feedback

Leitung: Eva Radünzel, Sonja Stich und Sonia Epple

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Genau richtig – Patricia Hoffmann über ihre Hochsensibilität

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